Arbeitsgruppe Prof. H.J. Korsch

Einleitung der Diplomarbeit


Transportprozesse in Systemen mit gemischt regulär-chaotischer Dynamik

Markus Glück, Universität Kaiserslautern, März 1997

Chaotische Dynamik

Mit der Entdeckung des deterministischen Chaos erfuhr die Disziplin der klassischen Mechanik eine stürmische Entwicklung. Bereits einfache eindimensionale zeitabhängige Systeme können scheinbar regelloses erratisches Verhalten zeigen, obwohl ihre Dynamik in deterministischer Weise durch die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen bestimmt ist. Trajektorien in diesen Systemen sind extrem sensitiv gegenüber minimalen Veränderungen ihrer Anfangsbedingungen, was sich darin äußert, daß eng benachbarte Trajektorien sich mit der Zeit exponentiell voneinander entfernen. Das Auftreten chaotischen Verhaltens steht dabei in engem Zusammenhang mit der Nicht-Integrabilität des Hamiltonoperators, die keine global gültige kanonische Transformation auf Wirkungs-Winkel-Variablen erlaubt. Eindimensionale zeitunabhängige Systeme sind aufgrund der Energieerhaltung immer integrabel. Bereits bei eindimensionalen zeitabhängigen oder zweidimensionalen Systemen ist dagegen die Existenz weiterer Integrale der Bewegung eine seltene Eigenschaft, typischerweise existieren diese Integrale nicht. Der Phasenraum zeigt dann eine charakteristische Koexistenz chaotischer und regulärer Bereiche, weswegen die Dynamik als gemischt regulär-chaotisch bezeichnet wird. Der Übergang von regulärer zu chaotischer Dynamik, wie er beispielsweise bei der nichtintegrablen Störung eines ohne Störung integrablen Hamiltonoperators auftritt, wird durch das KAM-Theorem und das Poincare-Birkhoff-Theorem beschrieben und kann als weitestgehend verstanden betrachtet werden. Da die Quantenmechanik als übergeordnete Theorie die klassische Mechanik als Grenzfall im Limes h -> 0 enthalten muß, stellt sich auf natürliche Weise die Frage, ob sich Manifestationen klassischen chaotischen Verhaltens auch in der Quantenmechanik wiederfinden, was mit dem Begriff ``Quantenchaos'' bezeichnet wird. Da die klassische chaotische Dynamik in vielen Bereichen Selbstähnlichkeit zeigt, bei der sich Phasenraumstrukturen auf immer kleineren Größenordungen ad infinitum wiederholen, die Quantenmechanik aber aufgrund der Unschärferelation die feinen Details nicht mehr wahrnimmt, ist es nicht verwunderlich, daß klassisches und quantenmechanisches Verhalten sich zum Teil deutlich unterscheiden. Genannt sei beispielsweise die Unterdrückung der Diffusion im kicked rotor im Zusammenhang mit dynamischer Lokalisation. Dennoch gibt es eine ganze Reihe von Manifestationen des klassischen Chaos in der Quantenmechanik: Die Gutzwillersche Spurformel verknüpft die quantenmechanische Zustandsdichte mit klassischen periodischen Orbits. Quantenmechanische Eigenfunktionen zeigen eine Neigung zu erhöhten Aufenthaltswahrscheinlichkeiten längs klassischer instabiler periodischer Orbits, zu sogenannten scars. Auch andere klassische Phasenraumstrukturen wie beispielsweise Resonanzinseln oder Cantori finden sich in den quantenmechanischen Eigenfunktionen wieder. Die Nächste-Nachbar-Statistik der Eigenwerte von Quantensystemen mit klassisch chaotischem Hamiltonoperator entspricht einer GOE-Verteilung, die mittels random matrix theory erhalten wird.

Transportprozesse und Levy-Flüge

In chaotischen Bereichen des Phasenraums ist eine komplette Beschreibung der klassischen Dynamik praktisch nicht möglich, bedingt durch die extreme Empfindlichkeit gegen minimale Änderungen der Anfangsbedingungen. Einen Ausweg bietet eine statistische Beschreibung der Dynamik, bei der die Zeit-Evolution von Größen untersucht wird, die über den chaotischen Phasenraum gemittelt werden. Ein interessanter Aspekt klassischer chaotischer Dynamik, der auf diese Weise untersucht werden kann, ist das Transportverhalten in chaotischen Phasenraumteilen: Wie manifestiert sich chaotische Dynamik in der Ausbreitung von Teilchenensembles im chaotischen Anteil des Phasenraums? Damit eng verwandt ist die Frage, inwieweit deterministische chaotische Dynamik einen Generator für einen stochastischen Prozeß darstellen kann und ob sich dann auf dieser Basis die Zeitevolution von Teilchendichten durch Fokker-Planck- oder Diffusionsgleichungen beschreiben läßt. Im Prinzip werden dabei die auftretenden Kräfte wie weißes Rauschen behandelt, woraus insgesamt ein diffusives Verhalten resultiert. Wie sich zeigt, ist dieser Zugang möglich, wenn eine Zeit tau existiert, nach der die Dynamik als unkorreliert betrachtet werden kann. In chaotischen Systemen ist diese Voraussetzung auf den ersten Blick erfüllt: Durch das exponentielle Auseinanderlaufen anfangs eng benachbarter Trajektorien wird die Dynamik dieser Teilchen mit der Zeit völlig unkorreliert. Wie sich aber herausstellt, scheitert dieses Konzept beim Auftreten regulärer Inseln im chaotischen Phasenraum: In diesem Fall treten langzeitkorrelierte Prozesse, sogenannte Levy-Flüge auf, die von komplizierten topologischen Strukturen im Übergangsbereich zwischen chaotischen und regulären Phasenraumgebieten hervorgerufen werden. Sie können das Transportverhalten des chaotischen Systems radikal verändern und zu anormaler, beschleunigter Diffusion führen. Da das Auftreten von Levy-Flügen letztendlich nur von der Existenz eines Grenzbereichs zwischen chaotischen und regulären Phasenraumgebieten abhängt, stellen Levy-Flüge ein weitverbreitetes Phänomen dar. Außer in nichtlinearen Hamiltonschen Systemen wurden Levy-Flüge und anormale Diffusion auch in vielen anderen Gebieten der Physik beobachtet, so zu Beispiel beim 1/f-Rauschen in Josephson-Kontakten, bei der Laser-Kühlung, in rotierenden Flüssigkeiten, bei der Diffusion von Polymeren und bei Messungen des Hall-Widerstandes in quadratischen und rechtwinkligen Antidot-Gittern.

Zu dieser Arbeit

In dieser Arbeit wird die Wirkung der Levy-Flüge auf das Transportverhalten gemischt regulär--chaotischer Systeme am Beispiel des Doppelresonanzmodells untersucht, wobei der Fall klassischer nichtdissipativer Dynamik behandelt wird. Die Ergebnisse werden mit dem Verhalten im Fall klassischer dissipativer und quantenmechanischer nichtdissipativer Dynamik verglichen. Die Arbeit ist folgendermaßen strukturiert: In Kapitel 1 wird zuerst das grundlegende Vorgehen beschrieben und das Doppelresonanzmodell vorgestellt. In ausführlicher Weise wird behandelt, wie Levy-Flüge entstehen und durch welche Eigenschaften sie charakterisiert sind, wobei insbesondere die Flugdauerverteilung der Levy-Flüge hergeleitet wird. Der abschließende Abschnitt ist Wahrscheinlichkeitsverteilungen gewidmet, die mit der Flugdauerverteilung eng verwandt sind, den sogenannten Levy-Verteilungen. In Kapitel 2 wird untersucht, wie Levy-Flüge das Transportverhalten in chaotischen Phasenraumbereichen im klassischen nichtdissipativen Fall beeinflussen. Dabei wird ein Modell der Verteilungsfunktion vorgestellt, das diesen Einfluß explizit berücksichtigt. Das Transportverhalten des Doppelresonanzmodells wird unter Verwendung der Kurzzeitnäherung der Verteilungsfunktion charakterisiert. Bei der theoretischen Analyse des Langzeitverhaltens wird untersucht, unter welchen Voraussetzungen Levy-Flüge zu beschleunigter Diffusion führen. Die Resultate werden mit numerischen Ergebnissen verglichen. Das Transportverhalten im Falle klassischer dissipativer Dynamik wird in Kapitel 3 untersucht. In chaotischen Systemen können sich in dissipativen Systemen Punktattraktoren sowie seltsame Attraktoren bilden. Das Transportverhalten von Punktattraktoren und seltsamen Attraktoren wird beschrieben. Unter gewissen Umständen treten auf seltsamen Attraktoren langzeitkorrelierte Prozesse auf, die in einigen Eigenschaften Levy-Flügen ähneln und deshalb als Pseudo-Levy-Flüge bezeichnet werden. Ein Beispiel wird vorgestellt und im Detail analysiert. Unter Verwendung einer leicht abgewandelten Form der Verteilungsfunktion aus Kapitel 2 werden die Transporteigenschaften in diesem speziellen Fall charakterisiert. In Kapitel 4 wird untersucht, inwieweit sich die in den ersten beiden Kapiteln beschriebenen Phänomene in der nichtdissipativen quantenmechanischen Dynamik wiederfinden. Zuerst wird der quantenmechanische Floquetoperator eingeführt und bezüglich seiner Symmetrien charakterisiert. Im nächsten Abschnitt wird die numerische Berechnung des Floquetoperators beschrieben. Mit den kohärenten Zuständen und der Husimidichte werden die Grundlagen zur weiteren Behandlung des Problems vervollständigt. Auf numerische Weise wird die Zeitevolution eines gegebenen Anfangszustandes untersucht und bezüglich der Transporteigenschaften chaotischer Dynamik analysiert. Das in den Untersuchungen verwendete Doppelresonanzmodell ist eines der grundlegenden Modelle zum Studium des Quantenchaos. Es beschreibt beispielsweise die Dynamik einfacher Modellsysteme wie einer Magnetnadel oder eines Dipols im magnetischen bzw. elektrischen Wechselfeld, aber auch geladene Teilchen in stehenden elektrischen Feldern oder Atome in modulierten stehenden Laserfeldern, was speziell das Transportverhalten einer experimentellen Untersuchung zugänglich macht. Als eines der Modellsysteme für Quantenchaos ist das Doppelresonanzmodell Inhalt aktueller Untersuchungen in der Arbeitsgruppe. Die vorliegende Arbeit soll diese um einen weiteren Aspekt ergänzen. 

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